Ein Zittern lief durch den ausgemergelten Körper der Streunerin, ihre Pfoten zuckten, als wollte sie die Krallen ausfahren, die sie nicht mehr besaß. Ihre Lider flatterten bei dem müden Aufschlag der grün-grauen Augen, der nun erfolgte, ein anfangs noch recht trüber Blick klärte sich innerhalb weniger Augenblicke. Fuchsdreck! Was ist passiert? Sie lag im Wald, keine Frage. Das Laub verfärbte sich bereits rot und orange, und die Blätter begannen langsam auf die Erde hinabzusegeln. Mit zitternden Gliedern gelang es Prin schließlich, sich auf die Pfoten zu hieven. Sie brauchte kurz, um sich orientieren zu können, denn durch einen anfänglichen Schwindel konnte sie während der ersten Schritte kaum geradeaus laufen. Tief atmete sie die bereits frische, vom Geruch des getrockneten Laubes erfüllte Luft des Blattfalls ein. Ihre verhältnismäßig großen Pfoten versanken im trockenen Unterholz, als die Streunerin sich langsam in Bewegung setzte. Nur ein leises Rascheln wurde von ihren Schritten verursacht, das Geräusch könnte jedoch ebenso dem sanften Wind zugeschrieben werden, der fast unmerklich zwischen den Bäumen hindurchwehte, und melodisch durch das noch dichte Blätterdach der vergangenen Blattgrüne strich. Diese Schwäche, die sie einmal wieder befallen haben musste, war verflogen, neue Energie begann wieder durch ihr Blut zu fließen. Mit aufgestellten Ohren und die leicht modrigen Düfte des Waldes witternd streifte sie unter den Bäumen hindurch, in Prins grau-grünen Augen spiegelten sich die kräftig rötlichen Farben der Blätter. Verschiedene Gerüche anderer Katzen stiegen ihr in die rund geformte Nase, manche schon schal und bereits verblichener als andere, die noch recht neu erschienen. Und dazwischen… Die Streunerin konnte den recht unangenehmen Geruch nicht einordnen, doch da er nicht besonders frisch oder nahe zu sein schien, machte sich Prin vorerst keine Sorgen. Wobei sie das ohnehin selten tat… Sie war eher wie ein übergroßes Junges, dessen doch recht unfreundliche und zynische Art manchmal das einzige war, was sie als die bereits ausgewachsene Kätzin auszeichnete, die sie tatsächlich war. Ihr regelmäßiges Versinken in ihre eigenen Gedanken - eine Eigenschaft, die sie bereits mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte - störte da zwar doch etwas, aber da sie ohnehin nicht vorhatte, jemanden so nahe an sich ranzulassen, dass das jemandem auffallen könnte… Einen Aufschrei unterdrückend zuckte Prin zurück. Hatte sie eben noch nur über ihre wirren Gedanken, in denen sie sich regelmäßig zu verstricken schien, nachgedacht, so war nun genau das eingetreten, was sie immer wieder zu verhindern suchte - sie hatte sich nicht auf ihre Umwelt konzentriert - und war so fast in einen Kater hineingerannt, der über eine andere Katze gebeugt stand. Blut befleckte ihrer beider Fell, und in den leuchtend blauen Augen des Katers war noch ein zorniges Funkeln zu erkennen. Die aufgewirbelten Blätter um die beiden herum verrieten ebenso wie die überall verteilten Fellbüschel, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte, dass das hier bestimmt keine der Übungen war, die Prin bereits mehrmals bei dieser seltsamen Katzengruppe, welche hier irgendwo in der Nähe zu leben schien, beobachtet hatte. Jüngere Kätzchen trainierten anscheinend regelmäßig immer wieder die gleichen Kampftechniken - zumindest hatte es auf die Streunerin so gewirkt, die währenddessen einmal mehr oder minder interessiert auf der Jagd gewesen war, bis sie diese kleinen Gruppen immer wieder entdeckte. Bei ihnen waren die Krallen aber stets eingefahren, die älteren Katzen versicherten sich immer wieder, ob es den Jüngeren nach einer Übung auch gut ging - aber hier, jetzt…?
Instinktiv sträubte sich das flauschige Fell der Streunerin, sie legte die Ohren an und fletschte die Zähne, während sie sich hastig ein paar Schritte zurückzog. Bisher hatte dieser Kater noch nicht von seinem Opfer - unter all dem Blut konnte Prin die Fellfarbe der Kätzin kaum erkennen; lebte sie überhaupt noch, oder hatte der Kater ihr tödliche Wunden zugefügt? - aufgeschaut, vielleicht hatte er die zierliche Kätzin ja noch nicht bemerkt, vielleicht könnte sie ihn von hinten überrumpeln, einfach, weil sich bei seinem Anblick die Angst schmerzhaft in ihren Magen grub. Das kalte Funkeln in seinen himmelblauen Seelenspiegeln beunruhigte sie, es schien ihr klar machen zu wollen, dass ihr an diesem Ort Gefahr drohte. Dass ihr von ihm Gefahr drohte. Wer auch immer dieser Kater war - er war ihr mehr als nur unheimlich, und das, wo sie andere Katzen nach dem ersten Sehen sonst nur als Mäusehirn oder Fuchsherz bezeichnete, wollte sie von ihm nur so schnell wie möglich flüchten. Etwas in seinem eisigen Blick brachte sie dazu, sich am liebsten verstecken zu wollen - doch vielleicht war es auch nur das Blut, welches Prin solche Panik bereitete, diese Unmengen von Blut… Konnte eine Katze bei einem solchen verlust der dicken dunkelroten Flüssigkeit überhaupt noch leben? Prin hielt kurz inne, fixierte noch einmal mit ihren für eine Katze recht farblosen Augen die Szene, die sich ihr noch immer bot. Inzwischen hatte sich der Kater kurz abgewandt, als würde er über etwas nachdenken, nur um sich dann doch wieder umzudrehen und die blutüberströmte Kätzin am Boden am Nackenfell zu packen, und sie einige Fuchslängen weit wegzog - in Prins Richtung! Und die Streunerin merkte erst jetzt, dass sie noch immer wie angewurzelt hier stand, die Pfoten in den Boden gestemmt, den dichten Pelz gesträubt und die Ohren angriffslustig angelegt. Sie war ungefähr so unauffällig wie ein blutrünstiger Fuchs zwischen lauter schnurrenden Jungen, also war es klar, dass der Fremde sie sehen würde. Er musste sie sehen, wenn er nicht vollkommen blind und blöd obendrein auch noch wäre. Was er nicht zu sein schien. Prin war ja ohnehin der Meinung, grausame Katzen seien die intelligentesten und faszinierendsten - zumindest theoretisch, in der Praxis wollte sie keinen Kontakt zulassen, mit dem sich diese Theorie überprüfen ließe. Aber wie dem auch sei - er hatte sie gesehen. Und sie stand hier, als wolle sie ihm gleich ebenso an die Kehle gehen, wie er es mit der Kätzin getan hatte, die er jetzt mitschleppte. Fuchsdung!
”Was soll das werden?” Als wäre sie eine Mutter, die ihr unartiges Junges ausschimpfte, versuchte Prin sich noch um eine Pfotebreit aufzurichten. Ohne Erfolg, wie sie enttäuscht feststellen musste, der Fremde war leider immer noch etwas größer als sie. Also musste ihre übergroße Klappe wohl das wettmachen, was ihr an Körpergröße fehlte. ”Seid ihr Waldkatzen jetzt unter die Kannibalen gegangen? Ich hoffe mal stark, dass dem nicht so ist, denn ich möchte nicht auch noch wie ein erschlagener Igel als erfolgreiche Beute von dir mitgeschleift werden.” Mit vorgerecktem Kinn und peitschendem Schweif funkelte Prin den schwarz-weiß gescheckten Kater an, die unterdrückte Angst verlieh ihr noch mehr Energie als sie ohnehin schon besaß - und gerade diese Kraft wollte sie jetzt in Wut umwandeln. Was fiel diesem Kannibalen-Kater auch ein, seine Beute gleich vor ihren Augen zu erlegen, wo sie doch gerade erst wieder von einem störenden Schwächeanfall erwacht war?!

”Beim SternenClan! Was zum…?!” Der fremde Kater ließ den leblosen Körper zwischen seinen Kiefern mit einem dumpfen Aufprall auf die harte Erde fallen. Seine Augen, die in einem hellen Eisblau leuchteten - einer sehr schönen Farbe, wie Prin widerstrebend zugeben musste - waren vor Schreck geweitet. Hat der Kannibalen-Kater jetzt Angst, dass ich sein kleines Geheimnis, woher er seine Beute bekommt, gelüftet habe? Allerdings muss er sich ja keine Sorgen machen, dass ich ihm sein Festmahl wegfressen werde - einerseits gehöre ich nicht zu diesen kannibalistischen Gruppen, andererseits sieht er aus, als könnte er eine ordentliche Portion Katzenfleisch besser vertragen als ich. Bereits als der Fremde sich umgedreht hatte, war der Streunerin sein recht ausgezehrter und sehniger Körper ins Auge gefallen. Seine doch recht definierten Muskeln wurden von keiner Fettschicht umgeben, und so war praktisch jeder seiner Knochen unter dem doch faszinierend gefleckten Fell sichtbar. Früher, in einer Zeit, die Prin nun wie ein anderes Leben vorkam, hätte sie den Kater durchaus für attraktiv erachtet - und damit als mögliches Opfer ihrer Spielchen, die sie damals noch so gerne zu spielen pflegte. Herzen brechen und Enttäuschung säen - das war einstmals ihre einzige Beschäftigung gewesen, wenn sie einmal wieder ziellos durch das verschlungene Labyrinth aus steingemachten Kästen tappte, in denen die Riesen zu wohnen pflegten. Vielen Katern und auch Kätzinnen hatte sie anfangs ein leichtes Spiel gemacht, bis sie dann mit viel Dramatik und Wut wieder aus den Leben derer geflohen war, die sie zu besitzen glaubten. Sie hatte das Gefühl gemocht, begeht und gebraucht zu werden - doch diese Zeit war nun Vergangenheit. Prin brauchte keine vor Liebe blinden Katzen, die ihr sabbernd hinterherliefen. Sie brauchte nur ihre Ruhe. Und die hatte der Kannibalen-Kater vor ihr gerade gestört.
Und er störte sie weiterhin. Ein Fauchen verließ Prins Maul. Der heftige Fluch des Katers machte ihr nichts aus - ruppige Gespräche mit Einfluss aller möglichen Kraftausdrücke kannte sie zur Genüge. Nein, es waren seine darauffolgenden Worte, die sie entzürnten. ”Ich bin genauso süß wie meine Zähne, die ich dir in deinen hirnlosen Schädel bohre, wenn du nicht zurücktrittst!” Die plötzliche Nähe des schwarz-weiß Gescheckten machte sie nervös, zum einen war er bedauerlicherweise um einiges größer als sie, außerdem ließ dieser Ausdruck in seinen leuchtenden Augen wachsende Unruhe in ihr aufsteigen. Ihr ganzer Verstand schien der Streunerin zuzuschreien, dass von dem Fremden Gefahr ausging, und dass sie möglichst schnell fliehen sollte. Er war ihr im Moment mehr als nur unheimlich - so musste sich also ein Beutetier fühlen, von seinem Jäger in die Falle gelockt, und nun dem grausamen Spiel des Stärkeren ausgeliefert. Genau so kam sie sich nämlich gerade vor - ihr Gegenüber hatte die edlen Gesichtszüge amüsiert-spöttisch verzogen, und sie fürchtete, dass er etwas wusste oder vorhatte, von dem sie keine Ahnung hatte. Hatte sie also Recht, und der Kater wollte sie ebenso abschlachten wie die leblose Kätzin, vor die er sich nun gestellt hatte? Oder wollte er sie einfach nur einschüchtern, damit sie sich nicht an seiner mit so viel Einsatz der Krallen und Zähne gerissenen Beute vergriff? ”Katerchen, lass uns bitte ein paar Dinge klären, bevor ich meine Zähne wirklich zum Einsatz bringe. Ich bin nicht klein. Oder vielleicht bin ich das doch - aber das ist nicht mein Name. Kleines. Ich heiße Prince… Prin. Mein Name ist Prin, und nicht Kleines.” Die Streunerin atmete tief ein. ”Außerdem habe ich nicht vor, mich weiter mit deinen kannibalischen Traditionen, oder was auch immer das Abschlachten von Katzen für dich bedeuten mag, zu beschäftigen. Wenn du also so freundlich wärst, aus dem Weg zu gehen - meine Geduld stirbt gerade einen qualvollen Tod.” So ruhig wie möglich reckte Prin beim Sprechen das Kinn, ohne zu blinzeln blickte sie ihrem Gegenüber in die faszinierend blauen Augen. Ungeduldig war sie schon immer gewesen - und gerade jetzt juckte es sie in den Pfoten, irgendetwas zu tun, um dieser Situation hier irgendwie zu entkommen. Der gescheckte Kater schien jedoch genau das Gegenteil ihrer Unruhe zu spüren - es schien so, als hätte der langbeinige Fremde alle Zeit der Welt. Wofür genau er diese Zeit genau zu nutzen beabsichtigte, wollte Prin lieber gar nicht wissen. In ihren Gedanken sah sie den Geschenkten schon inmitten einer Höhle voller gammelnder Leichen unzähliger Katzen stehen, die Zähne immer wieder in die bereits erkalteten Körper schlagend. Ekel stieg in ihr auf, und so gerne sie es auch getan hätte - die Streunerin beschloss, darauf zu verzichten, ihrem Gegenüber vor die Pfoten zu kotzen. Den Rest ihrer Würde wollte sie wenigstens noch behalten.
Diese doch höchst selbstlose Entscheidung Prins löste jedoch nur eine neunmalkluge Antwort des fremden Katers aus. Als wollte er ein Junges belehren, schien er das letzte Wort - welches Prin tatsächlich noch nicht kannte, von ihr war bisher jegliche Umgebung als Wald bezeichnet worden -  Buchstabe für Buchstabe zu buchstabieren. Ebene. Die Streunerin sah das als erneute Provokation, ebenso fasste sie die Tatsache auf, dass der Fremde sich noch keinen Schritt zur Seite bewegt hatte, um sie vorbeigehen zu lassen. Also gut. Wenn er nicht anders wollte… Seine erneute Bemerkung hinderte Prin erneut an einer Gegenrede oder wenigstens einer zynischen Bemerkung. Hatte dieser arrogante Fellball wirklich nicht vor, sie - die er als Eichhörnchen bezeichnet hatte, vor Wut schien das Blut in den Adern der Streunerin zu kochen - zum Narren zu halten?
Zornig kniff sie die Augen zusammen, peitschte weiterhin entzürnt mit dem Schweif und spannte die Muskeln an ihren Zehen an, durch die sich früher einmal spitze Krallen durch das weiche Fell gebohrt hatten. Dieser Reflex war ihr noch immer geblieben, das wohl einzige, was verriet, dass auch Prin einmal Krallen besessen hatte. Der nun dritte Kommentar ihres Gegenübers in Folge - eine erneute Ankündigung wie für ein Spiel, in dem die Streunerin das in die Ecke getriebene Beutetier war oder sein sollte - war dann zu viel.
”Tja, wie ich sehe, möchte der Kannibale wirklich herausfinden, wie sich die Zähne eines “Eichhörnchens” anfühlen.” Ohne zu zögern schnellte Prin aus ihrer zuvor kauernden Stellung auf, stützte sich mit einer Pfote auf dem Kopf ihres Opfers ab, um ihn gleichzeitig mit der plötzlichen Belastung durch ihr Gewicht nach unten zu drücken. Noch in der selben Bewegung verbiss sie sich mit den Zähnen in einer - wohl noch von seinem vorherigen Kampf mit der nun leblosen Kätzin am Boden stammenden - eher oberflächlichen Wunde. Darüber, wie unüberlegt und auch alles andere als klug ihr Handeln war, dachte die Streunerin keinen Herzschlag lang nach. Wie so oft hörte sie einfach nur auf ihren sprunghaften Instinkt, anstatt auf die kätzische Vernunft zu achten.
Wohl auch durch die spontane Unüberlegtheit ihres Handelns, gelang es Prin nicht wie gewünscht, ihre spitzen Zähne tief in das bereits blutige Fleisch des Fremden Katers zu bohren. Vielmehr war es nur ein kurzer Moment, in dem sie die nächste untere Hautschicht ebenfalls aufzureißen schaffte, den sie ihren von ihrem Temperament und Stolz getriebenen Angriff durchzuführen. Nur wenig neues Blut - fast überhaupt keines - schmeckte die Streunerin auf ihrer Zunge, als ihre krallenlose Pfote bereits wieder vom glatten Fell auf dem Kopf des Katers abrutschte. Im letzten Moment versuchte sie noch, sich abzurollen, um so außerhalb der Reichweite des schwarz-weiß Gescheckten zu landen, doch dieses eine Mal ließ die sonst sehr ausgeprägte Koordination zwischen ihrem Hirn und dem Körper sie im Stich. Ungelenk landete die Kätzin vor dem Fremden auf der Erde, der Rücken unbequem auf einem harten Grasbüschel liegend und den empfindlichen Bauch ungeschützt.

Der Blick des fremden Katers hatte etwas faszinierendes, trotz der Kälte, die in seinen doch recht hübschen Augen lag. Sie waren eisblau, wie es der Streunerin noch einmal aufs neue auffiel, strahlend eisblau und so tiefgründig wie ein blasser Himmel während der Dämmerung. Der einzige Unterschied war wohl, dass kein Himmel solch einen Zorn in sich haben konnte, wie Prin ihn jetzt in den Seelenspiegeln ihres Gegenübers erkennen konnte. Er schien sich nicht gerade über ihr loses Mundwerk zu freuen, eher sah es so aus, als würde er ihr deshalb am liebsten sofort an die Kehle gehen. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, den schwarz-weiß Gescheckten weiter zu provozieren. Sie hätte einfach mehr auf ihre Umgebung achten müssen, dann wäre sie nicht fast in den Fremden hineingerannt, sodass diese Situation hier gar nicht erst stattgefunden hätte. Aber dem war leider nicht so, also musste sie ihrem Gegenüber nun wohl oder übel standhalten.
”Wie soll ich dich denn dann nennen, kleines Kätzchen? Ich habe dir meinen Namen genannt, und weder reagierst du darauf, noch verrätst du mir deinen. Anscheinend bist du mit Katerchen doch nicht so unzufrieden, wie du mir weismachen möchtest, nicht wahr? Oder bestehst du darauf, als alter Fellhaufen bezeichnet zu werden, werter Kannibale? Wenn es so ist, werde ich deinem Wunsch natürlich umgehend nachkommen.” Mit süffisantem Schnurren kräuselte Prin die Nase. Wer auch immer nun ihr Gegenüber war - er schien sich für etwas besseres zu halten. Eindeutig ein Mitglied dieser seltsamen Katzengruppe - die scheinen alle so drauf zu sein wie er, so fleißig und gründlich, wie sie das ganze Gelände hier markieren. Als würde der ganze Wald...als würde die ganze Ebene ihnen gehören. Ebene. Ebene. Das fremde Wort, welches ihr ihr Gegenüber als Bezeichnung für ihre Umgebung genannt hatte, geisterte immer wieder in ihrem Kopf herum, wie ein Echo, welches immer wieder von den dunklen Wänden einer Höhle zurückgeworfen wird. Ebene. Ebene. Ebene. Prin musste zugeben, dass ihr das Wort gefiel, sie mochte die Art, wie der Fremde die einzelnen Silben betont hatte. E-b-e-n-e. Fast war sie versucht ihn zu fragen, ob er das Wort noch einmal sagen könnte, einfach, weil der Klang so schön war. Erst im letzten Moment biss sie sich auf die Zunge, so fest, dass es wehtat, und sie spürte, wie sich warmes Blut in ihrem Maul sammelte und ihre Kehle hinunterfloss, als Prin schluckte. Auf was für absurde Ideen kam sie? Der Kater vor ihr wirkte, als würde er ihr für ihre Respektlosigkeit am liebsten das Fell über die Ohren ziehen - und in ihrem Kopf entstand der Gedanke, dass sie dieses neu erlernte Wort aus seinem Mund so wundervoll fand? Das konnte doch nicht wahr sein, sie hatte sich auf andere Sachen zu konzentrieren. Zum Beispiel darauf, ihren Gegenüber mit stechendem Blick zu fixieren, jede kleinste Bewegung wahrzunehmen, um einen möglichen Angriff rechtzeitig zu bemerken.

Dieser blieb jedoch aus - stattdessen schien den Fremden bei Prins neuer Nennung seines Kannibalen-Daseins ein Schauer des Ekels zu überfallen. Er blickte so, als hätte die Streunerin ihm mitgeteilt, dass er von einem Fuchs geschwängert worden war - voller Abscheu, und als könnte er nur mühsam dem Wunsch entsagen, sich gleich hinter dem nächsten Grasbüschel zu übergeben. Woran lag denn das jetzt? Hatte dieser mäusehirnige Mörder unbemerkt einen Knochen verschluckt, oder ekelte er sich jetzt vor seinen eigenen Taten, nachdem Prin ihn...bekehrt hatte?
Doch was auch immer das für eine kurze kätzische Regung gewesen war - innerhalb weniger eines Herzschlages war sie bereits wieder verschwunden, um der spöttischen Kälte Platz zu machen, die nun erneut wieder sichtbar auf dem markanten Gesicht des Katers wurde. Das Lächeln, welches nun seine Züge zierte, wirkte wie aus Prins schlimmsten Albträumen entsprungen, in denen sich ihr ehemaliger Riese auf zwei Beinen langsam aber sicher in eine gigantische Katze verwandelte, die die Streunerin dann in Fetzen riss… Wäre ihr Fell noch nicht gesträubt, als hätte ein Blitz in die Kätzin eingeschlagen, sähe Prin vor unterdrückter Angst und Wut spätestens jetzt so aus, wie sie es tat, als sei sie ein fluffiger Igel, der in einen Wirbelsturm geraten war.
Aber gerade jetzt fühlte es sich eher so an, als hätte sie diesen Wirbelsturm verschluckt, so sehr drängte es sie nun danach, den Fremden loszuwerden, irgendwie…

...doch nur wenige Herzschläge später fand sich Prin auf dem Rücken liegend unter dem fremden Kater wieder. Er hatte kurz stillgestanden, nur seine Muskeln angespannt, als sei er tatsächlich von dem erbärmlichen Angriff der Streunerin überrascht worden - doch sobald Prin ziemlich unelegant und unsanft auf die harte Erde zurückfiel, war er bereits über ihr. Mit drei Pfoten stand er fest auf dem Boden, nur einen Vorderlauf nutzte er dazu, um Prin auf dem Untergrund zu fixieren. Seine doch recht weiche Pfote, deren Ballen durch das häufige Laufen auf der Ebene - Prin spürte kurz, wie es in ihrem Bauch kribbelte, sobald sie das Wort dachte - gehärtet war, hatte er auf dem Brustbein der Kätzin angestellt, und obwohl es doch nur ein Punkt war, auf den er Druck ausübte, gelang es der Streunerin selbst mit größter Anstrengung nicht, sich aus dem festen Griff zu befreien. Egal, wie sie sich nach einem kurzen Moment der Benommenheit auch winden wollte; sowohl ihre Bewegungsfreiheit war eingeschränkt wie auch der Fakt sie störte, dass ihre weichen Pfoten ohne Krallen bloß wirkungslos gegen den Bauch des schwarz-weiß Gescheckten trommeln konnten, was so ziemlich das einzige war, was sie im Moment tun konnte. Ihren Kopf hielt der Fremde mit seinem simplen Griff so effektiv am Boden, dass Prin nicht einmal hoffen konnte, ihre Zähne erneut zum Einsatz zu bringen. Wobei sie auch keine Chance gegen den Kater haben würde, sollte er sie loslassen. Sie hatte im Gegensatz zu ihm keine Krallen, war um einiges kleiner als er und könnte auch nicht hoffen, ihn mit ihrem wenigen Gewicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das - und nicht die Worte des Fremden - war nach einer kurzen Zeit, in der sie sich zu befreien versuchte, der Grund, weshalb sie jegliche Gegenwehr einfach sein ließ. Es war nun also so gut wie endgültig. Der Kater würde sie töten und wahrscheinlich an Ort und Stelle verspeisen, oder sie zu seinen Freunden mitzerren, denen er sie dann vorsetzen würde. Fuchsherziger Kannibale! Konnte er sie nicht einfach gehen lassen?
In Erwartung eines tödlichen Bisses nach ihrer Kehle kniff Prin die Augen zusammen, als der fremde Kater erneut das Maul öffnete. Sie wollte ihrem Mörder nicht ins Gesicht blicken, wollte nicht ihr eigenes Blut sehen, bevor ihr Herz aufhörte zu schlagen. Doch der erwartete Schmerz blieb aus. Die Kratzer, die der Fremde ihr verpasst hatte, als er sie auf den Boden gedrückt hatte, brannten, aber das war auch alles, was sie spürte. Aber sie hörte, Prin hörte, wie der schwarz-weiß Gescheckte ihr eine Frage stellte, eine Frage danach, wie sie wirklich hieß. War das eine Falle? Vorsichtig wagte die kleine Kätzin es, erst ein Auge zu öffnen, bevor sie dem noch immer über ihr stehenden Kater gänzlich ins Gesicht blickte. Dort, wo sie vorher Zorn und Kälte erkannt hatte, nahm sie nun eine Neugierde wahr, wie sie sie bloß einmal bei kleinen Jungen beobachtet hatte. Dieser blitzschnelle Wechsel von Gefühlen faszinierte sie, die Tatsache hingegen, dass er ihren vollen Namen wissen wollte, nahm sie nicht wirklich glücklich auf. Ihr voller Name war ihre Vergangenheit, ihre Vergangenheit, die sie am liebsten ruhen lassen und vergessen wollte. Dennoch merkte sie durch den eben so schnell vollzogenen Stimmungswechsel ihres Gegenübers, dass dessen Neugierde wahrscheinlich im gleichen Tempo wieder in Mordlust umschlagen konnte. Sie konnte also nur noch das beste aus dieser Situation machen.
”Ich wurde als Junges Princess Cupcake genannt. Als Junges, bitte merk dir das, ich möchte nicht von jedem dahergelaufenen Kannibalen so genannt werden! Fuchsdreck! Dass sie ihm die Worte wie einen Bissen stinkenden Krähenfraßes ins Gesicht gespuckt hatte, bereute Prin sofort wieder. Wollte sie ihn nicht milder stimmen, damit er sie losließ, sodass sie flüchten könnte? Nun, diese Chance hatte sie nun anscheinend verpasst. Erneut begann sie, sich zu winden und mit den weichen Pfoten wirkungslos gegen die Beine des Katers zu schlagen.

Ihr Gegenüber, der durchaus attraktive Kannibale, schien für einen Moment in Gedanken versunken. Ein leicht abwesender Blick war in seinen leuchtend blauen Augen zu erkennen, und Prin musste zugeben, dass er trotz seiner so scharfen Gesichtszüge und dem sehnigen Körper eine Schönheit an sich hatte, die sie bisher nur gesehen hatte, wenn sie in ruhigen Nächten den dunklen Sternenhimmel betrachtete. Die Ruhe, die in diesem Augenblick seines Nachdenkens auf seinen markanten Zügen einkehrte, unterstrich diese unbewusste Assoziation Prins noch mehr. Sie liebte den Nachthimmel, liebte ihn sogar fast mehr, als sie Lex geliebt hatte - ihre Geliebte war ebenso unstet wie sie selbst gewesen, eher wie ein tosender Fluss, und wohl gerade dieser vermeintliche Fund einer Seelenverwandten war es gewesen, was Prin an die Kätzin gekettet hatte.
Kurz musste sie blinzeln - der Gedanke an Lex löste noch immer einen Schmerz in ihrem knochigen Rippenkorb aus, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen wollte, und auch nicht konnte - noch zumindest nicht.

Von dem ruhigen, tiefsinnigen Anblick des nächtlichen Himmels war jedoch nicht mehr viel zu bemerken, als der Fremde auf Prins respektlose Worte reagierte. Ein Knurren stieg in seiner Kehle auf, seine leuchtenden Augen flackerten, als läge hinter ihnen etwas, das sich seinen Verstand mit ihm teilte. Der Sturm weht Wolken vor die Sterne… Warum sie auf solch absurde Gedanken kam, während der Fremde sich knurrend vor ihr aufgerichtet hatte wie ein hungriger Fuchs, welcher sich auf seine Beute stürzen und sie in Stücke reißen wollte, wusste Prin auch nicht. Vielleicht war sie einfach noch zu benommen von ihrem erst kürzlich erfolgten Zusammenbruch, ja, das musste es sein. Sonst machte sie sich doch nicht solche unnötig metaphorischen Gedanken - vielleicht war sie, als sie zusammengeklappt war, einfach mit dem Schädel auf den Untergrund gekracht. Das musste es sein - Prin konnte nur hoffen, dass diese seltsame Gefühls- und Gedankenwelt irgendwo dahin verschwand, wo sie vorher gewesen sein musste - an einen Ort, den die zierliche Streunerin nicht kannte und auch hoffentlich nie kennenlernen würde.
Hoffentlich auch irgendwohin, wohin auch der werte Kater Kannibale hier vor ihr verschwinden würde. Der schneeweiße Kater mit den schwarzen Flecken - er grub die Krallen in die weiche Erde unter seinen Ballen und blickte Prin mit diesem Funkeln in den Augen an, mit welchem er sie bereits zuvor bedacht hatte. Nur, dass er es diesmal nicht nur bei diesem vernichtenden Blick beließ - der fremde Kater verzog die kantigen Gesichtszüge zu einer spöttischen Miene, während er Prin einzuschüchtern versuchte, indem er Drohungen von sich gab. Von solchen Katern hatte sie doch wahrlich schon genug gehört und gesehen - einerseits waren sie so besitzergreifend, wie ein Eichhörnchen seine Nuss behütete, andererseits waren sie der Meinung, sich alles herausnehmen zu können, während die Kätzinnen vor ihnen kriechen sollten. Wenn dieser Kannibale einer von dieser Sorte war, würde Prin ganz gewiss nicht ihre kostbare Zeit hier bei ihm absitzen wollen - viel lieber würde sie den Wind spüren, der durch ihr Fell strich, wenn sie mit leichten Pfoten über diese weite Fläche zu fliegen schien. Der Tag, der abgesehen von ihrem unbeabsichtigten Zusammenbruch so gut zu werden schien, war nun von einem Moment auf den anderen etwa so einladend wie ein vergammeltes Stück Krähenfraß. Frustration brodelte in Prins Bauch, und sie musste sich zwingen, wenigstens einigermaßen ruhig zu bleiben.
”Habe ich das richtig verstanden; und du heißt Sternchen? Oder war dein Name doch Mutti? Oder Mutti-Sternchen?
Und was soll mir dann leidtun? Wird die Sonne beim nächsten ‘Kannibale’ aufgehen, sodass die Nacht und somit auch die Sterne verschwinden? Du magst es nicht glauben, aber für mich wäre das kein Problem, wenn du dafür endlich aus meinem Weg gehen würdest, Kannibalen-Mutti”, mit gekräuselten Schnurrhaaren versuchte die Streunerin dem durchdringenden Blick ihres Gegenübers standzuhalten - eine schier unmögliche Aufgabe, diese himmelblauen Seelenspiegel waren etwas, was Prin ihre Wut nicht beibehalten ließ. Dafür waren sie zu schön, und auch das hübsche Gesicht von Mutti-Sternchen gefiel ihr im Moment überhaupt nicht mehr - zumindest so weit sie sich das einreden konnte. Ihr gefiel nichts, was sie in ihrem Weg behinderte - und wenn dieses Nichts ihrem losen Mundwerk noch dazu standhalten konnte, war das noch einmal eine Sache für sich. Dass gerade ihr Verhalten unangepasst und respektlos war, fiel Prin überhaupt nicht ein - sie war so groß geworden, dass ihr weiblicher Zweibeiner-Riese ihr alles hatte durchgehen lassen, sogar Lob und ein sanftes Lächeln hatte sie geerntet, wenn die jetzige Streunerin ihren Napf auf dem Teppich ausgeleert hatte, um damit jagen zu spielen, wobei das weiche Fell, welches den Boden bedeckte, fast vollständig zerstört wurde. Bei dem Männchen sah das natürlich anders aus, aber theoretisch war Prin eine in solchen Dingen recht optimistische Katze, die sich zumindest in dieser Hinsicht mehr auf das gute als das schlechte in ihrer Zeit als Junges konzentrierte. Dennoch war es nun gerade ihr ebenfalls ausgeprägter Pessimismus, der sie den Vergleich von dem Kannibalen vor ihr und ihrem ehemaligen Zweibeiner-Riesen aufzustellen. Sie beide hatten ihr Angst gemacht oder taten es jetzt - doch wo früher ihr weiblicher Zweibeiner-Riese so etwas wie ein sicherer Hafen in ihrer Furcht für Prin gewesen war, so hatte sie doch in der Zeit als Streunerin gelernt, dass Krallen und Zähne oft weitaus kraftvoller und mächtiger sein können als nur Worte. Im Moment gelang es Prin noch, ihre Ungeduld und den Ärger über diese Unterbrechung ihres entspannten Tages hinunterzuschlucken, doch sie befürchtete, dass sie das nicht mehr lange schaffen würde. Dann würde es hart auf hart kommen, ihre Zähne gegen den wahrscheinlich aufs Töten spezialisierten Kannibalen mit seinen wahrscheinlich noch sehr intakten Krallen und der durchaus muskulösen Gestalt.
Doch bis es so weit kommen würde, würde zum Glück anscheinend noch etwas Zeit vergehen - von einem Moment auf den anderen schlug der Ausdruck in den himmelblauen Seelenspiegel ihres Gegenübers erneut um, und Prin konnte aus ihnen ebenso wie aus seinen Worten eine gewisse Besorgnis herauslesen. Warum interessierte ihn das? War das eine... Masche, um so etwas wie Vertrauen schaffen zu wollen, indem Sternchen jetzt einen auf den lieben Vater machte?
”Das ist nicht mein Blut, Sternchen… warum denkst du das? Das ist eine sehr weise Hellseherei von dir, dass du dich bereits blutend und besiegt von mir auf der...Ebene wahrnimmst - aber das ist allein deine Wahrnehmung!” Wenn es denn ging, sträubte sich Prins Pelz bei ihren auf reine Provokation abgesehenen Worten noch mehr. Sie wusste nicht, was der Kater vor ihr für ein Spiel spielte - doch es gefiel ihr nicht, so sehr sie ihn auch dafür bewundern mochte. Seine sprunghafte Art faszinierte die Streunerin - das war so ganz anders als sie selbst und das, was sie bisher kannte.

Dieser schnelle Wechsel von Gefühlen wurde auch bemerkbar, als Prin schon längst unter dem Streuner am Boden lag - fixiert von seinen Pfoten und dadurch daran gehindert, etwas anderes zu tun, als wirkungslos mit den krallenlosen Pfoten zu strampeln.
Der stechende - und es war kein schlechtes Stechen… eher eines, welches nur von Aufmerksamkeit und echten Gefühlen erzeugt werden konnte - Blick des noch immer Fremden fixierte sich nach ihrem seine Wut entfachenden Angriff erneut besorgt oder… - Prin konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht richtig deuten - auf die am Boden liegende Streunerin. Weshalb war er so überrascht? Hatte er nicht gedacht, sie würde nicht wissen, dass er sie abschlachten wollte?
Auf diese Aktion hatte er jedoch anscheinend immer noch keine Lust - stattdessen wollte er wissen, weshalb er sie nicht Princess Cupcake nennen dürfte. Doch Prin konnte sich nicht auf die Worte von Mutstern - sie schaffte es nicht, seinen Namen geistig wieder irgendwie zu verzerren - konzentrieren. Ihr Verstand hatte eine fast unmerkliche Regung des tot gewähnten Körpers hinter dem Kannibalen erkannt - ein angestrengtes, eigentlich übermäßiges Heben der blutigen Flanken, zusammen mit einem fast tonlosen Seufzen, welches praktisch im Säuseln des Windes unterging. Das war also die Masche des Kannibalen - er genoss es anscheinend, seine Opfer nur schwer zu verletzen, bis sie unter seinen Blick an ihren Wunden verendeten. Erneut schlich sich die Angst in Prins Blick, sie zappelte und wollte fliehen vor diesem offenbar skrupellosen Mörder - aber noch immer hielt sie der feste Griff des Katers am Boden. ”Lass mich - ich will noch nicht sterben…! Nicht so wie sie! Warum tust du das?” Panisch schlug und biss Prin um sich, in der Hoffnung, Fell und Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen, sodass der Schmerz Mutstern dazu bringen würde, von ihr abzulassen.
Ich will noch nicht sterben - oh bitte, lasst mich nicht sterben, ihr Götter, sollte es euch in irgendeiner Form geben!

Prin konnte gar nicht anders, als kurz innezuhalten. "Fleckenstern? Mutstern? Warum immer die Endung -stern?", verwirrt blickte die Streunerin für einen Moment zu dem größeren Kater über sich auf, ihre Gedanken hatten sich im Angesicht dieser Frage auf etwas anderes fokussiert, als darauf, dem Fremden weitere respektlose Kommentare ins Gesicht zu miauen. Warum -stern? Warum? Dieser Doppelname verwirrte sie bereits so genug, warum setzte sich der Name des Kannibalen aus zwei - aus Prins Sicht - völlig unzusammenhängenden Worten zusammen? "Ist das so ein Kannibalen-Ding, dass ihr alle irgendwas-Stern heißt?", obwohl sie wieder das Wort verwendete, welches den schwarz-weiß Gescheckten wohl nur noch mehr zu entzürnen schien, lag diesmal keine böse Absicht in Prins Augen, nur reine Neugier und eine ernst gemeinte Frage. Vielleicht ließ sie sich von solchen unnützen Details tatsächlich zu leicht ablenken - aber diese Frage brannte ihr jetzt so stark auf der Seele, dass sie sie unbedingt stellen musste. Sie hatte nämlich überhaupt keine Ahnung, wie diese Kannibalen-Stämme hier zusammen lebten - war ihre Frage also respektlos oder einfach nur dämlich? "Ich bin nur neugierig, tut mir leid, wenn ich keine Ahnung von eurem Kannibalen-Gruppen-Leben habe", fügte Prin noch schnell hinzu. Darauf, dass sie sich von Anfang an respektlos verhalten hatte, kam sie gar nicht - sie war so bereits aufgewachsen, in einer sauberen Höhle mit mehreren Bauen, ohne jegliche Kannibalen. Warum sollte sie also etwas falsch machen?
Erneut schien ihr Gegenüber in Gedanken versunken zu sein. Falls Prin sich nicht irrte, huschte ein leichter Anflug von Traurigkeit über seine doch - das musste Prin widerwillig zugeben - fast schon überirdisch schönen Gesichtszüge. Am liebsten hätte sie seine Miene den ganzen Tag über betrachtet, wäre mit den Augen die einzelnen Kanten seiner Gesichtspartien entlanggefahren, nur um diese außergewöhnliche Schönheit für immer in ihrem Gedächtnis verankern zu können.
Aber leider war er ein laufender Haufen Fuchsdung, musste Prin sich schnell ins Gedächtnis rufen. Vielleicht war er schön - weshalb dachte sie das überhaupt? Dieses Verhalten machte ihr langsam Angst - aber er war immer noch ein Kannibale, der sie hier am Boden festhielt. In ihrem Verstand einen Schutzwall um die aufkeimenden Eindrücke von Schönheit im Gesicht des Fremden bauend, versuchte die Streunerin sich lieber wieder darauf zu konzentrieren, wie sie ihrem Gegenüber am besten in die blutverschmierte Pfote beißen konnte, um schnellstmöglich zu verschwinden. Denn auch, wenn sie jegliche positiven Gefühle im Moment zu unterdrücken versuchte, so spürte sie Angst in sich aufsteigen. Angst, dass sie ihr Herz wieder an jemanden ketten würde, der sie dann ohnehin verlassen würde. Ihre Zweibeinerin war ihr unter den Pfoten weggestorben - und Lex, Lex war plötzlich einfach aus diesem Leben verschwunden. Erneut setzte Prin an, sich auf die Zunge zu beißen - ein Reflex, wenn sie sich mit einer Situation überfordert fühlte - doch im letzten Moment, bevor ihre Zähne sich in das weiche rote Fleisch bohren konnten, schien Mutstern aus seinen Gedanken aufzutauchen, nur um zu verkünden, dass er sie nicht gehen lassen wollte. Gerade war Prin versucht, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er auch da stehen bleiben konnte, bis er an Altersschwäche sterben würde - schließlich lag sie selbst bequem auf dem Rücken und könnte jederzeit ein Nickerchen halten, während er die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, sie auf dem Boden zu fixieren - als ihr auffiel, dass sie ihn gedanklich Mutstern genannt hatte. Mutstern. Nicht Mutti-Sternchen. Nicht Kannibale. Nein, Mustern. Und wenn sie so darüber nachdenken würde, fand sie diesen Namen ja doch nicht so albern - er hatte einen schönen Klang, fast wie Ebene… E-b-e-n-e. M-u-t-s-t-e-r-n. Das gefiel ihr, wie sie zähneknirschend zugeben musste. Ja, der Klang gefiel ihr doch sehr…
"Aber ich will gehen!", brachte sie ihm dennoch mit einem jammernden Unterton in der Stimme entgegen. Langsam fing ihr Brustbein an zu schmerzen, dort, wo Mustern seine Pfote abgesetzt hatte, um sie daran zu hindern, zu fliehen.

"Besser Streuner als Kannibale! Wenigstens habe ich nur mein eigenes Blut im Mund, und nicht das einer anderen Katze!" Entzürnt fauchte Prin Mutstern diese Worte ins Gesicht, an ihren Lippen und den Zähnen hing tatsächlich noch etwas Blut, welches sie nicht herunterschlucken hatte können.
Den Regen, den der Körper Mutsterns über ihr abhielt, auf ihren eigenen zerbrechlichen Körper zu fallen, bemerkte die Streunerin in ihrem Rausch aus Respektlosigkeit überhaupt nicht. Wie konnte dieser Kater es denn wagen, sich für etwas besseres zu halten, nur weil er anscheinend einem der Kannibalenstämme angehörte, von denen sie nun einmal kein Mitglied war. Prin mochte ihre Freiheit, und die hatte sie nun einmal nur als Streunerin, da war sie sich sicher!

Doch auch der ach so mächtige Kannibale schien von der Reaktion Prins überrascht zu sein. Er wich zurück, wirkte in etwa im gleichen Zustand wie ein kopfloses Huhn, wie Prin es gerade auch war, als er versuchte, sie zu beruhigen. Sobald seine Pfoten sie nicht mehr am Boden hielten, hatte Prin sich wieder auf die Pfoten gerollt, nun kauerte sie geduckt am Boden, als wollte sie sich gleich auf Mutstern stürzen. Doch in ihren Augen stand zu viel Panik, als dass sie nur auf diese Idee kommen würde - hatte er gerade nur von ihr abgelassen, damit er sie besser auf freiem Feld fertigmachen konnte. Er wollte sie doch umbringen, bestimmt, oder? Alle vorher gewonnenen kätzischen Eigenschaften, die Prin zuvor an Mutstern hatte entdecken können, waren nun unwichtig. Mit dem endgültigen Tod der Kätzin hinter sich hatte der Kater sich nun erneut in den skrupellosen Eisklotz verwandelt, als welchen die Streunerin ihn zuvor wahrgenommen hatte. "Warum hast du sie getötet?! Macht es dir Spaß, anderer Katzen Leben zu beenden?" Mit hysterischem Unterton in der Stimme schlich Prin langsam rückwärts, als wollte sie sich so aus der Reichweite des Fremden schleichen. Angst flackerte in ihrem Blick. "Soll ich mich beruhigen, damit du mich leichter abschlachten kannst?" Jegliche Vernunft war aus Prins Verstand verschwunden, nur noch Panik kontrollierte ihren Geist. Sie hatte solche Angst vor diesem Fremden, dass sie kaum mehr atmen konnte.

Erstaunt dachte ihr Gegenüber eine Sekunde lang nach, bevor er zu der Erklärung ansetzte. Ein leichtes Lächeln hatte sich auf seine edlen Züge geschlichen, ließ sie nun nur noch mehr wirken wie geschliffenen Schiefer. Woran er wohl gerade dachte? Kurz überlegte Prin tatsächlich, ob sie etwas seltsames gefragt hatte - lag dieses Lächeln an ihrer Umwissenheit? Doch Mutstern schien nicht herablassend zu sein, wie die Streunerin es in dieser Situation erwartet hätte - eher wirkte er amüsiert, als würde er an etwas denken, was Prin selbst verschlossen blieb. Sie hatte lange nicht mehr dieses Bedürfnis gehabt - doch nun merkte sie, wie sich eine längst totgeglaubte Neugierde wie ein Phönix aus der Asche ihres Herzens erhob. Die Kätzin wollte die Geheimnisse um diesen Kater herum erforschen, hatte den Wunsch, dieses Rätsel mit dem klangvollen Namen Mutstern zu lösen. Ihre blassen Augen fixierten in ihre Faszination versunken die markanten Gesichtszüge des nun nicht mehr so Fremden - kurz hatte Mustern es tatsächlich geschafft, die zierliche Streunerin durch seine bloße Präsenz völlig aus der Realität zu werfen.
"Eure Ahnen? Leben sie in den Sternen?" Von dem eben genannten Begriff ebenso in den Bann gezogen wie von dem Kater, der die Worte gesprochen hatte, legte Prin fragend den Kopf schief. Es interessierte sie, wie das Leben Mutsterns aufgebaut war - fremde Strukturen, faszinierendes Neues, welches sie selbst doch noch vor nicht allzu langer Zeit verspottet hatte. Doch so schnell konnten sich die Dinge ändern, von der panisch-hysterischen Streunerin, welche alles und jeden auf Abstand hielt, zu einer Kätzin, die mit der Neugierde ihres jüngeren Selbstes den Worten eines mutmaßlichen Kannibalen lauschte. Es war ihr sogar egal, dass Mutstern vielleicht ein Kannibale sein könnte - das konnte sie tatsächlich gar nicht mehr glauben, wie war sie nur auf diese mäusehirnige Idee gekommen? - wenn er nur weiterreden würde, wenn Prin ihm nur weiterhin lauschen durfte, ihn fasziniert anstarren wie einen fliegenden Igel - dann würde es wohl nicht mehr lange dauern, bis sie ihn anflehen würde, ihn als seine ihm verfallene Dienerin stets zu Diensten sein zu dürfen. Wenn das bedeutete, dass er sie schlachten würde wie die noch immer reglos daliegende Kätzin - dann wäre es eben so. Prins letzte Sicht wäre dann auf diese wunderschönen blauen Augen gerichtet...

"Du...du führst tatsächlich einen ganzen...Clan?" Noch recht überfordert von all den neuen Begriffen und Worten, die dieser Mutstern ihr in nur so kurzer Zeit beibrachte, blickte Prin den Kater staunend an. Es war nicht so, dass sie ihm das nicht zutraute - wie gut er es schaffte, in selbst panischen Situationen dominant und stark zu wirken, hatte sie ja bereits gemerkt, eher verwunderte es sie, dass es tatsächlich Katzen gab, die zueinander gefunden hatten, um in einer Gemeinschaft zu leben, zusammen und füreinander sorgend. "Haben sie dich zu ihrem Anführer gemacht, weil du der stärkste und klügste von ihnen bist?" Man hörte deutlich aus Prins Worten heraus, dass in ihrer Kindheit und Jugend niemand bei ihr gewesen war, der ihr eine bestimmte Hemmschwelle gezeigt hatte. Ehrlichkeit - ob nun positiv oder negativ - sprach aus einem Großteil ihrer Gespräche heraus, und so sah sie auch nichts seltsames darin, den doch noch so Fremden mit diesen Komplimenten zu bedenken. Sie fand ihn einfach nur faszinierend, und bereits als Junges hatte sie doch nicht an Worten gespart, um diesen Gefühlen Ausdruck zu bieten.

Es war nicht nur der Schreck, der sich in Mutsterns Augen abzeichnete, als der Kater zurückwich. War es Trauer, die seine leuchtend blauen Seelenspiegel plötzlich so verwaschen wirken ließ wie die blutrote Färbung auf seinem weißen Fell, die der Regen langsam gen Erde spülte? Prin wusste es nicht, konnte auch nicht darüber nachdenken, mit all der Panik im Verstand, die sie - den Bauch dicht auf den Boden gedrückt - immer weiter zurückweichen ließ. Anstatt die Augen gegen den Regen zusammenzukneifen, hatte sie sie weit aufgerissen, angstvoll starrte sie Mutstern an, während sie sich immer weiter von ihm entfernte. Es war nicht der Tod der Kätzin an sich - Prin hatte sie tatsächlich schon für ermordet gehalten - sondern eher die Erinnerungen an ihre eigenen Verluste, die sich beim letzten Atemzug der Fremden wieder in den Vordergrund ihres Denkens stellten. Und das machte ihr Angst, ebenso wie Mutsterns Blick, der auf sie gerichtet war und nicht etwa auf die Tote, mit der ihn doch viel mehr verbinden sollte als mit ihr, einer Streunerin. Warum reagierte er nicht auf dieses Aushauchen eines Lebens, warum berührte ihn das nicht? War er aus Stein? War sein Herz aus Stein, ebenso wie das ihre?
Sein Versprechen rührte sie aber dennoch. Niemand hatte ihr bisher versprochen, zu ihr zurückzukommen. Bei Lex war es eher eine Selbstverständlichkeit gewesen, eine Sünde ihrer Jugend, für die sich Prin noch immer verfluchte. Mutstern war etwas besonderes. Ob Kannibale, Mörder oder von ihr unschuldig beschuldigter Kater - sie war ihm verfallen. Tief holte sie einmal Luft. Es fiel ihr schwer, die folgenden Worte auszusprechen, wollte sie doch nicht schwach wirken oder so, als hätte der Tod der Kätzin sie kalt gelassen. Doch für einen Moment konnte sie sich beruhigen. "Ich werde warten. Das verspreche ich auch."

Und sie würde warten. Aber nicht jetzt. Prin musste ihren Verstand klären, die verwirrenden Gedanken und Gefühle von und um Mutstern in ihrem Inneren sortieren.
Mit einem letzten Blick über die Schulter drehte sie sich um und machte den ersten Schritt, sprintete weiter auf die Ebene - Ebene, Ebene, Ebene - darauf hoffend, dass ihr von plötzlicher Zuneigung erfülltes Herz sie mehr halten würde als die krallenlosen Pfoten, auf denen sie auf der aufgeweichten Erde ebenso hilflos unterwegs war, wie sie Mutstern verfallen war.